Sonntag, 8. Mai 2016

"Marseille": Gérard Depardieu wird von seinem Kontrahenten in den Schatten gestellt | Staffel: 1

FR / 8 Episoden á ~50 Minuten / FSK: 16 / Genre: Politik, Drama / Bildrecht bei: Netflix
Gérard Depardieu ist wieder da - als Bürgermeister von "Marseille" in der ersten europäischen Eigenproduktion von Netflix. Warum der Altmeister nicht das Highlight der Serie darstellt und ob die französische Soap-Version von "House of Cards" überzeugen kann...

Frankreich hat Tausende von guten Gründen, die einen Besuch rechtfertigen würden. Sei es das überall vorherrschende Gefühl von Leichtigkeit und Liebe oder die atemberaubenden Gegenden, die von der Haupstadt Paris über ländliche Idylle bis hin zu kleinen Städtchen mit Küstencharme alles zu bieten haben. Mit überdurchschnittlich guter Fernsehunterhaltung konnte das Land international bislang nicht für sich werben. Französisches Fernsehen ist selten weit gereist. Eine Nase voll Koks, die Gérard Depardieu als Robert Taro gehört, in der neuen Netflix-Serie „Marseille“ sollen das ändern.

Von dem Nervenzucker braucht der noch amtierende Bürgermeister Marseilles auch das ein oder andere Quäntchen, nachdem er von seinem Protegé Lucas Barrés (Benoît Magimel) bei der Abstimmung für den Bau eines Casinos hintergangen wird und seine Zukunftspläne neu auslegen darf. 20 Jahre waren er und sein eigentlicher Nachfolger Seite an Seite in der ersten politischen Liga der französischen Hafenstadt aktiv. Aus vermeintlicher Freundschaft entwickelt sich jedoch aus zunächst nicht ersichtlichen Gründen ein immer kompromisslos werdender Machtkampf, der auch das Privatleben der Beiden nicht unversehrt lässt.

Willkommen bei „Marseille“, dem Pionier unter den europäischen Serienproduktionen für Netflix - einem Projekt mit nicht all zu geringen Ambitionen. „Marseille“ muss sich bereits nach den ersten zehn Minuten den Vergleich mit „House of Cards“ gefallen lassen und das ist kein leichter. Kann der Bär Gérard Depardieu als Bürgermeister von Marseille den Wolf Kevin Spacey als Präsidenten der Vereinigten Staaten vom Thron stoßen? Diese Frage ist nicht nur wegen des Vergleichs der politischen Positionen eine gemeine, muss sich Depardieus Rolle auch in Sachen Polarisierung Frank Underwood unterordnen. Zu zahm wirkt er. Weniger wie ein Bär, mehr wie ein Lamm, das ab und zu die Zähne fletscht.

Viel aufregender sieht es auf der Gegenseite aus. Dort steht Benoît Magimel als sein aufmüpfiger Ziehsohn Lucas Barrés, der das hinterhältige politische Spiel durch und durch verinnerlicht hat. Er ist der eigentliche Star der Serie, der Depardieu nicht nur in „Marseille“ den Rang als Bürgermeister ablaufen könnte, sondern auch den Status als französisches Schauspieö-Aushängeschild. Nach Filmen wie „Kleine wahre Lügen“ und „Crime Insiders“ krönt er seine Leistungen mit dieser Politserie, die mit ihren Intrigen, Morden und perfiden Sex-Affären allerhand abverlangt. Er meistert die Hürden und serviert dem Zuschauer nicht nur den reinen Bösewicht, sondern einen vielschichtigen Charakter, dessen Beweggründe man nachvollziehen kann.


"Ich habe Benoît Magimel gewählt, weil er der größte französische Schauspieler seiner Generation ist." - Florent Siri, Regisseur


Serienschöpfer Dan Franck (u.a. Autor des Fünf-Stunden-Epos „Carlos“) hat sich aber nicht nur von „House of Cards“ inspirieren lassen, sondern vielmehr von der Politik-Serie „Boss“, die 2011 bis 2012 für den US-amerikanischen Pay-TV-Sender Starz produziert wurde. Abgesehen von dem Fakt, dass sich die Geschichte dort um einen Bürgermeister in Chicago dreht, gibt es zum Beispiel in Form einer verheimlichten Krankheit allerhand Parallelen. Man hat sich aber auch im eigenen Land von der Muse küssen lassen.

Wenn die Franzosen nämlich etwas können, ist es Dramatik. Diese spürt man, wenn aus einem politischen Konflikt plötzlich ein klassischer Soap-Moment entsteht. Mit schrillen Geigenklängen werden sie eingeleitet und mit Paukenschlägen beendet. Wortwörtlich. So wird Taros Frau (Géraldine Pailhas) anfangs anscheinend nur mit dem Grund eingeführt, dass dem Zuschauer wegen ihres Schicksalsschlags, der sie vom Cello spielen abhalten soll, die ein oder andere sentimentale „Oohhh“-Reaktion entfleuchen könnte.  

Nach der ersten Folge muss man sich daher erst einmal fragen, ob man sich mit diesen „Gute-Zeiten-Schlechte-Zeiten“-Elementen anfreunden kann. Zum Glück werden dem Zuschauer aber letztlich mehr Argumente für, als gegen die Serie geliefert. Für das Weiterschauen wird man mit immer weniger von diesen Momenten belohnt. Als Ersatz treten dafür mehr und mehr zwielichtige politisch getriebene Aktionen auf den Plan, die ganz Marseille von den sozial schwachen Ghettos bis in die edlen Villenviertel abdecken.



„Wer aus Marseille kommt, ist verurteilt, an nichts mehr zu glauben“, schrieb Schriftsteller Gaston Leroux einmal. Düstere und passende Worte für eine Stadt, die lange Zeit als eine dreckige galt. Mittlerweile hat sie sich 2013 zur Kulturhauptstadt Europas gemausert und lässt ihre Vergangenheit in der gleichnamigen Serie dementsprechend hinter sich. Ab und zu blitzen die Problemgegenden mit ihren perspektivlosen Jugendlichen zwar auf, haben gegen die zeitintensiven Aufnahmen des wunderschönen Hafens aber keine Chance.

Dementsprechend scheitert der Versuch, auf die Probleme der französischen Problemschichten aufmerksam zu machen. Zu hastig wird dieses Thema durch altbackene Drogendeals und deren Folgen abgearbeitet, damit das Rampenlicht schnell wieder einzig und allein auf den intensiven Machtkampf in Marseilles Spitze scheinen kann. Womöglich möchte Netflix vor allem Eindruck schinden und zeigen, wie gut und poliert europäische Serien aussehen können. Viel an "Marseille" wirkt ein Stück weit gewollter als gekonnt. Authentizität schafft das nicht.


Abschließend bleibt zu sagen: Gewisse Ähnlichkeiten zu den amerikanischen Serien „House of Cards“ und „Boss“ sind nicht von der Hand zu weisen sind. Doch "Marseille" ist nicht einfach eine Adaption eines erfolgreichen amerikanischen Vorbilds, sondern ein Konzept, das auf das europäische Publikum zugeschnitten wurde. Mit „Gomorrha“, einer italienischen Mafiageschichte, hat Sky vorgemacht, wie gut dieses Vorhaben aufgehen kann. Bei "Marseille" ist es allerdings nicht ganz so gut  geglückt. In einer elektrisierenden Szene wirft Taro Barrés vor, dass er ihn und die Stadt verraten hat. "Dich vielleicht, aber nicht Marseille", kontert der. Mir stellt sich die Frage, ob Netflix nicht Marseille verraten hat. Denn schön anzusehen ist die erste komplett in Europa gestemmte Produktion sicherlich, aber irgendwie fehlt ihr etwas. Vielleicht ist es Charme.  
7.5/10

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